Streit über Arbeitsvergütung, BAG v. 17.04.2002 – 5 AZR 89/01

Tatbestand
Die Parteien streiten über Arbeitsvergütung.
Die Klägerin war bei dem Beklagten seit 1. November 1995 als Sprachlehrerin beschäftigt. Sie ist
nicht Mitglied einer Gewerkschaft. Der Beklagte ist freier Träger der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit.
Er behandelte die Klägerin zunächst als freie Mitarbeiterin und bezahlte eine Vergütung
auf Honorarbasis (30,00 DM pro Stunde). Auf Antrag der Klägerin stellte das Landesarbeitsgericht
Köln mit Urteil vom 18. November 1999 (- 10 (11) Sa 95/99 -) rechtskräftig fest, daß zwischen den
Parteien seit 1. August 1996 ein Arbeitsverhältnis bestehe. In einem weiteren Rechtsstreit einigten
sich die Parteien vor dem Arbeitsgericht über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf Grund
betriebsbedingter Kündigung zum 30. September 1999. Mit Schreiben vom 29. Dezember 1998
forderte die Klägerin erstmals von dem Beklagten rückständige Arbeitsvergütung.
Der Beklagte wendet auf die bei ihm bestehenden Arbeitsverhältnisse den Manteltarifvertrag Nr.
2 für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Internationalen Bundes (IB) vom 27. Februar
1984 an. In § 50 dieses Tarifvertrags ist eine Ausschlußfrist enthalten, die folgenden Wortlaut hat:
“Ansprüche auf Leistungen, die sich aus dem Arbeitsverhältnis ergeben, müssen innerhalb einer
Ausschlußfrist von 6 Monaten nach ihrer Fälligkeit schriftlich bei der Hauptgeschäftsführung, bzw.
gegenüber dem Arbeitnehmer, geltend gemacht werden. Nicht geltend gemachte Ansprüche erlöschen.”
Nach § 26 MTV hat die Überweisung der Bezüge so rechtzeitig zu erfolgen, daß der Arbeitnehmer
am letzten Arbeitstag der Bank im Kalendermonat über seine Bezüge verfügen kann.
Mit ihrer Klage macht die Klägerin Arbeitsvergütungsansprüche geltend, die sie nach der VergGr.
IV a des vom Beklagten auf alle Arbeitnehmer angewendeten Haus-Vergütungstarifvertrags unter
Berücksichtigung eines Eintrittsalters von 33 Jahren berechnet. Sie hat die Auffassung vertreten,
die Vergütungsansprüche seien nicht verfallen. Der Beklagte könne sich nicht auf die tarifliche
Ausschlußfrist berufen. Er habe sie weder in einem schriftlichen Arbeitsvertrag noch einer Niederschrift
auf die Geltung des Haustarifvertrags hingewiesen. Hierin liege ein Verstoß gegen das
Nachweisgesetz. Sie hätte ihre Vergütungsansprüche rechtzeitig geltend gemacht, wenn sie in einem
Arbeitsvertrag oder einer Niederschrift auf die Ausschlußfrist hingewiesen worden wäre.
1 Für die Amtliche Sammlung: Ja; Für die Fachpresse: Ja

Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin rückständigen Lohn wie folgt zu zahlen:
1. für die Zeit für August 1996 bis Januar 1997 16.198,50 DM brutto abzgl. gezahlter 6.495,00 DM
netto;
2. für die Zeit von Februar 1997 bis einschließlich Mai 1997 11.090,56 DM brutto abzgl. gezahlter
7.065,00 DM netto;
3. für die Zeit von Juni 1997 bis Mai 1998 34.633,92 DM brutto abzgl. gezahlter 18.750,00 DM netto.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er meint, die erhobenen Zahlungsansprüche
seien auf Grund der tariflichen Ausschlußfrist verfallen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage im Hinblick auf die von der Klägerin erstinstanzlich noch geltend
gemachten Vergütungsansprüche für die Zeit vom 1. Juni 1998 bis zum 30. September 1999
rechtskräftig stattgegeben. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat
die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision
verfolgt die Klägerin ihre Zahlungsansprüche weiter. Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Gründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen.
Ob die geltend gemachten Zahlungsansprüche bestehen, kann auf Grund der getroffenen
Feststellungen des Landesarbeitsgerichts nicht abschließend beurteilt werden. Die Sache ist deshalb
an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.
I. Der Vergütungsanspruch ist in der streitgegenständlichen Höhe entstanden. Er folgt aus § 611
BGB iVm. dem kraft betrieblicher Übung auf alle Arbeitsverhältnisse des Beklagten anwendbaren
Haus-Vergütungstarifvertrags.
1. Tarifvertragliche Regelungen, die den Inhalt von Arbeitsverhältnissen ordnen, gelten nicht nur
zwischen beiderseits Tarifgebundenen (§ 4 Abs. 1 iVm. § 3 Abs. 1 TVG), sondern können auch kraft
Bezugnahme auf den Tarifvertrag Anwendung finden. Eine solche Bezugnahme auf tarifvertragliche
Regelungen kann ausdrücklich, aber auch durch betriebliche Übung erfolgen (BAG 19. Januar
1999 – 1 AZR 606/98 – AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 9 = EzA TVG § 3 Bezugnahme
auf Tarifvertrag Nr. 10; Hanau/Kania FS Schaub 1998 S 239, 258 ff.; Wiedemann/Oetker TVG 6.
Aufl. § 3 Rn. 271). Hierdurch soll die Gleichstellung der Außenseiter mit den tarifgebundenen Arbeitnehmern
erreicht werden (so zur ausdrücklich vereinbarten Geltung des jeweiligen Tarifvertrags
bei Tarifbindung des Arbeitgebers Senat 4. August 1999 – 5 AZR 642/98 – BAGE 92, 171 sowie
BAG 30. August 2000 – 4 AZR 581/99 – BAGE 95, 296; BAG 19. Januar 1999 aaO).
2. Der Beklagte wendet nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts die von ihm abgeschlossenen
Tarifverträge grundsätzlich auf alle Arbeitsverhältnisse der bei ihm beschäftigten Arbeitnehmer
an. Da der Beklagte im übrigen nicht nur kraft Verbandszugehörigkeit tarifgebunden
ist, sondern selbst Tarifvertragspartei ist, ist von einer Bezugnahme auf das bei der Beklagten geltende
Tarifwerk kraft betrieblicher Übung auszugehen.
II. Die Ansprüche auf Arbeitsvergütung sind gemäß § 50 MTV erloschen. Die fehlende Tarifbindung
der Klägerin steht dem nicht entgegen.
1. Die tarifliche Ausschlußfrist des § 50 MTV ist auf das Arbeitsverhältnis der Klägerin anwendbar.
Von der Bezugnahme durch betriebliche Übung sind nicht nur Tarifregelungen erfaßt, die den Arbeitnehmer
begünstigen, sondern auch die den Arbeitnehmer belastenden Tarifbestimmungen, wie zB
Ausschlußfristen (BAG 19. Januar 1999 aaO; zustimmend Oetker Anm. zu BAG AP TVG § 1
Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 9). Die Bezugnahme auf ein Tarifwerk durch betriebliche Übung
hat generellen Charakter (MünchArbR/Richardi 2. Aufl. § 13 Rn. 3). Der MTV und damit auch die
dort in § 50 geregelte Ausschlußfrist gelten für die Klägerin unabhängig davon, daß der Beklagte
diesen Tarifvertrag zu keinem Zeitpunkt auf das Arbeitsverhältnis der Klägerin angewandt hat.
Wie die Vorteile einer bestehenden betrieblichen Übung den Arbeitnehmern zugute kommen, mit
denen unter der Geltung der Übung ein Arbeitsverhältnis begründet wird (Senat 10. August 1988 –
5 AZR 571/87 – AP BGB § 242 Betriebliche Übung Nr. 32), hat der Arbeitnehmer ebenso für ihn ungünstige
Regelungen der betrieblichen Übung gegen sich gelten zu lassen. Entscheidend ist, daß
zwischen den Parteien ein Arbeitsverhältnis besteht.
2. Diese Rechtsgrundsätze stehen mit der bisherigen Senatsrechtsprechung in Einklang. Zwar hat
der Senat mit Urteil vom 26. September 1990 (- 5 AZR 112/90 – BAGE 66, 76) entschieden, bei fehlender
beiderseitiger Tarifbindung sei eine ausdrückliche Vereinbarung für die Anwendung tariflicher
Ausschlußfristen erforderlich (BAG 26. September 1990 aaO, zu II 3 der Gründe). Damit sollte
aber eine Tarifgeltung kraft betrieblicher Übung nicht ausgeschlossen werden. Die Geltung der tariflichen
Ausschlußfrist kam für die Klägerin in jenem Verfahren nicht in Betracht, weil sie nicht
unter den persönlichen Geltungsbereich des Tarifvertrags fiel. Selbst wenn also bei dem damaligen
Beklagten die betriebliche Übung bestand, den Tarifvertrag auf alle Arbeitsverhältnisse anzuwenden,
hätte dies wegen der mit der Bezugnahme bezweckten Gleichstellung von Außenseitern
und Gewerkschaftsmitgliedern nur zur Anwendbarkeit des Tarifvertrags im Rahmen des tariflich
geregelten persönlichen Geltungsbereichs geführt. Damit wäre die Klägerin jenes Verfahrens auch
bei einer unterstellten betrieblichen Übung nicht stillschweigend in den Geltungsbereich einbezogen
worden. Dazu hätte es vielmehr einer ausdrücklichen vertraglichen Vereinbarung bedurft.
III. Der Beklagte ist seiner Verpflichtung aus § 2 Abs. 1 NachwG zur Aushändigung einer Niederschrift
mit den wesentlichen Vertragsbedingungen nicht nachgekommen. Hieraus kann zwar nicht
geschlossen werden, ihm sei es nach § 242 BGB versagt, sich auf die Ausschlußfrist des § 50 MTV
zu berufen. Der Klägerin kann jedoch nach § 286 Abs. 1, § 284 Abs. 2, § 249 BGB ein Schadensersatzanspruch
zustehen, der den Beklagten verpflichtete, die Klägerin im Wege der Naturalrestitution
so zu stellen, wie sie bei rechtzeitigem Nachweis gestanden hätte.
1. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 NachwG hatte der Beklagte spätestens einen Monat nach dem vereinbarten
Beginn des Arbeitsverhältnisses die wesentlichen Vertragsbedingungen schriftlich niederzulegen,
die Niederschrift zu unterzeichnen und der Klägerin auszuhändigen. Hierzu war der Beklagte
ohne Aufforderung der Klägerin verpflichtet, weil das Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens
des Gesetzes am 28. Juli 1995 noch nicht bestand (§ 4 NachwG). Der Beklagte hat der
Klägerin auch keinen schriftlichen Arbeitsvertrag ausgehändigt, so daß die Verpflichtung zur Aushändigung
einer Niederschrift nicht nach § 2 Abs. 4 NachwG entfallen ist. Der Klägerin sind damit
die kraft betrieblicher Übung auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren Tarifverträge nicht mitgeteilt
worden. Dies verstößt gegen § 2 Abs. 1 Nr. 10 NachwG.
2. Ist die Ausschlußfrist in einem Tarifvertrag geregelt, der kraft vertraglicher Bezugnahme auf das
Arbeitsverhältnis anwendbar ist, genügt der Arbeitgeber seiner Nachweispflicht nach § 2 Abs. 1
NachwG mit einem schriftlichen Hinweis auf den Tarifvertrag nach § 2 Abs. 1 Nr. 10 NachwG. Eines
besonderen Hinweises auf die Ausschlußfrist bedarf es nicht. Nur wenn sich die Ausschlußfrist allein
aus einer einzelvertraglichen Vereinbarung ergibt, ist auf sie ausdrücklich in der Niederschrift
hinzuweisen (ebenso LAG Niedersachsen 7. Dezember 2000 – 10 Sa 1505/00 – LAGE TVG § 8 Nr. 1;
Bepler ZTR 2001, 241, 243 ff.; Krause AR-Blattei SD 220.2.2 TVG § 8 Nr. 1 Rn. 175; aA Koch FS
Schaub 1998 S 421, 439; Preis/Lindemann Anm. zu EuGH 8. Februar 2001 – Rs C 350/99 – EAS RL
91/533/EWG Art. 2 Nr. 2).
Der Aufstellung in § 2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 9 NachwG sowie § 2 Abs. 1 Nr. 10 und § 2 Abs. 3
NachwG ist eine Privilegierung kollektivrechtlich geregelter Vertragsbedingungen zu entnehmen.

Wenn das Gesetz in allen Fällen des § 2 Abs. 1 Satz 2 NachwG, in denen eine kollektivrechtliche
Regelung der Arbeitsbedingungen denkbar ist, gemäß § 2 Abs. 3 NachwG den allgemeinen Verweis
auf die Kollektivregelung zuläßt, spricht dies gesetzessystematisch dafür, einen solchen Hinweis
auch für weitere, nicht ausdrücklich in § 2 Abs. 1 Satz 2 NachwG genannte wesentliche Vertragsbedingungen
ausreichen zu lassen, die in Tarifverträgen oder Betriebsvereinbarungen bzw.
Dienstvereinbarungen geregelt sind. Es ist kein Grund ersichtlich, insoweit weitergehende Nachweispflichten
zu begründen.
3. Allein der Verstoß gegen die aus § 2 Abs. 1 NachwG folgende Verpflichtung begründet nicht den
Einwand rechtsmißbräuchlichen Verhaltens (§ 242 BGB) des Arbeitgebers (aA LAG Schleswig-Holstein
8. Februar 2000 – 1 Sa 563/99 – LAGE § 2 NachwG Nr. 8).
a) Es liegt kein Fall des institutionellen Rechtsmißbrauchs des Beklagten vor. Hierbei geht es weniger
um das individuelle Verhalten einer Partei, sondern darum, daß die sich aus einer Rechtsnorm
ergebenden Rechtsfolgen zurücktreten müssen, wenn sie zu einem mit Treu und Glauben nicht zu
vereinbarenden, schlechthin untragbaren Ergebnis führen. Maßgebend ist hier eine generalisierende
Interessenabwägung in Bezug auf bestimmte Rechtsnormen oder Rechtsinstitute (Münch-
KommBGB/Roth 4. Aufl. § 242 Rn. 347f., 537 ff.; Palandt/Heinrichs BGB 61. Aufl. § 242 Rn. 40).
Beruft sich ein Arbeitgeber auf eine kraft betrieblicher Übung geltende Ausschlußfrist, ohne den
Arbeitnehmer zuvor in einer Niederschrift nach § 2 Abs. 1 NachwG auf die Geltung des die Ausschlußfrist
regelnden Tarifvertrags hingewiesen zu haben, handelt er zwar rechtswidrig. Dieses
Verhalten kann aber nicht ohne Prüfung der Umstände des Einzelfalls als schlechthin unerträglich
und unbillig bewertet werden (im Ergebnis ebenso Adam Anm. zu LAGE § 2 NachwG Nr. 8 und 9).
Gerade der vorliegende Fall macht deutlich, daß eine generalisierende Bewertung der Interessen
nicht sachgerecht ist, sondern auch das jeweilige Verhalten des Arbeitnehmers die Interessenlage
wesentlich beeinflußt. So ist die Klägerin selbst bis Mitte 1998 davon ausgegangen, sie werde zu
Recht als freie Mitarbeiterin beschäftigt.
b) Ein individueller Rechtsmißbrauch des Beklagten ist nicht ersichtlich. Insoweit ist zu berücksichtigen,
daß beide Vertragsparteien bei Beginn ihrer Rechtsbeziehungen am 1. November 1995 davon
ausgingen, zwischen ihnen bestehe ein freies Mitarbeiterverhältnis und kein Arbeitsverhältnis.
Der Beklagte hatte daher aus seiner Sicht keine Veranlassung, der Klägerin eine Niederschrift
nach § 2 Abs. 1 NachwG auszuhändigen. Dem Vortrag der Klägerin ist auch nicht zu entnehmen,
daß der Beklagte die Klägerin bei Abschluß des freien Mitarbeitervertrags über deren tatsächliche
Rechtsposition getäuscht oder durch unredliches Verhalten diesen Vertragsschluß herbeigeführt
hat (vgl. hierzu allgemein MünchKommBGB/Roth aaO § 242 Rn. 347 f., 380).
4. Der Klägerin könnte gegen den Beklagten wegen der nicht rechtzeitig erfolgten Aushändigung
einer ordnungsgemäßen Niederschrift über die wesentlichen Vertragsbedingungen nach § 286
Abs. 1, § 284 Abs. 2, § 249 BGB ein Schadensersatzanspruch zustehen. Ob dieser Anspruch gegeben
ist, kann auf der Grundlage der vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen nicht
abschließend beurteilt werden.
a) Der Beklagte befand sich mit der Aushändigung der Niederschrift in Verzug. Nach § 2 Abs. 1 Satz
1 NachwG hatte der Beklagte spätestens einen Monat nach dem vereinbarten Beginn des Arbeitsverhältnisses,
dh. am 1. September 1996, der Klägerin die Niederschrift auszuhändigen. Eine Mahnung
der Klägerin zur Begründung des Verzugs des Beklagten war nach § 284 Abs. 2 BGB nicht
erforderlich. Die Pflicht zur Aushändigung der Niederschrift war vielmehr nach dem Kalender bestimmt.
Zur Zeit des Vertragsabschlusses stand auf Grund der gesetzlichen Regelung in § 2 Abs. 1
NachwG der Zeitpunkt, zu dem die Niederschrift spätestens auszuhändigen war, objektiv fest.
b) Nach § 286 Abs. 1 BGB ist der durch den eingetretenen Verzug adäquat verursachte Schaden zu
ersetzen (vgl. MünchKommBGB/Thode aaO § 286 Rn. 7). Schaden iSv. § 249 BGB ist das Erlöschen
des Vergütungsanspruchs der Klägerin. Da der Schadensersatzanspruch auf Naturalrestitution ge-
richtet ist, kann die Klägerin vom Beklagten verlangen, so gestellt zu werden, als sei ihr Vergütungsanspruch
nicht untergegangen. Die Klägerin könnte damit gegen den Beklagten nach § 286
Abs. 1, § 249 BGB einen Vergütungsersatzanspruch in Höhe des erloschenen Arbeitsentgeltanspruchs
erlangt haben. Dieser Schadensersatzanspruch ist begründet, wenn die geltend gemachten
Vergütungsansprüche bestanden, nur wegen Versäumung der Ausschlußfrist erloschen sind
und bei gesetzmäßigem Nachweis seitens des Arbeitgebers nicht untergegangen wären. Bei der
Prüfung des Anspruchs ist die Vermutung aufklärungsgemäßen Verhaltens des Arbeitnehmers
einzubeziehen (ebenso Bepler ZTR 2001, 241, 246; zu dieser Vermutungswirkung vgl. BAG 17. Oktober
2000 – 3 AZR 69/99 – AP BetrAVG § 1 Zusatzversorgungskassen Nr. 56 = EzA BetrAVG § 1 Nr.
71). Danach ist grundsätzlich davon auszugehen, daß jedermann bei ausreichender Information
seine Eigeninteressen in vernünftiger Weise wahrt. Bei einem Verstoß gegen § 2 Abs. 1 Nr. 10
NachwG ist zugunsten des Arbeitnehmers zu vermuten, daß dieser die tarifliche Ausschlußfrist
beachtet hätte, wenn er auf die Geltung des Tarifvertrags hingewiesen worden wäre. Diese Auslegung
des Nachweisgesetzes ist geboten, um den Zweck der Nachweisrichtlinie 91/533, den Arbeitnehmer
vor Unkenntnis seiner Rechte zu schützen, wirksam zur Geltung zu bringen. Andernfalls
könnte der Arbeitnehmer kaum nachweisen, daß er bei ordnungsgemäßem Verhalten des Arbeitgebers
die Ausschlußfrist beachtet hätte. Dem Arbeitgeber bleibt die Möglichkeit, diese tatsächliche
Vermutung zu widerlegen.

c) Das Landesarbeitsgericht hat – von seinem Ausgangspunkt konsequent – zu den Voraussetzungen
und Rechtsfolgen des Schadensersatzanspruchs nach § 286 Abs. 1 BGB keine weiteren Feststellungen
getroffen. Die Klägerin hat zwar behauptet, sie hätte bei ordnungsgemäßer Aushändigung
einer Niederschrift nach § 2 Abs. 1 NachwG ihre Arbeitsvergütungsansprüche rechtzeitig geltend
gemacht. Die Vorinstanzen haben diesen Vortrag jedoch nicht mit Blick auf mögliche Schadensersatzansprüche
gewürdigt. Dem Beklagten ist Gelegenheit zu geben, zum Verschulden nach
§ 285 BGB vorzutragen. Insoweit ist ggf. im Rahmen von § 254 BGB ein Mitverschulden der Klägerin
zu berücksichtigen, wenn der Klägerin oder ihrem Prozeßbevollmächtigten die Ausschlußfrist
bereits bekannt war.
5. Neben dem Schadensersatzanspruch aus § 286 Abs. 1 BGB besteht kein deliktischer Schadensersatzanspruch
aus § 823 Abs. 2 BGB iVm. § 2 NachwG. Diese Bestimmung ist nicht Schutzgesetz iSv.
§ 823 Abs. 2 BGB (ebenso Krause AR-Blattei 220 2.2 Rn. 262; Schwarze ZfA 1997, 43, 55; aA ErfK/
Preis 2. Aufl. Einf. NachwG Rn. 12; Birk NZA 1996, 281, 289; Schäfer, Das Nachweisgesetz 2000 D
Rn. 189).
a) Gesetz iSv. § 823 Abs. 2 BGB ist jede Rechtsnorm, die ein bestimmtes Gebot oder Verbot ausspricht
und nach Zweck und Inhalt jedenfalls auch dem Individualschutz dient. Die Norm muß auf
den Schutz vor einer näher bestimmten Art der Schädigung eines Rechtsguts oder eines Individualinteresses
gerichtet sein. Dabei ist ausreichend, daß die Gewährung von Individualschutz wenigstens
eines der vom Gesetzgeber mit der Norm verfolgten Anliegen ist, selbst wenn auf die Allgemeinheit
gerichtete Schutzzwecke ganz im Vordergrund stehen (Senat 25. April 2001 – 5 AZR
368/99 – AP BeschFG 1985 § 2 Nr. 80, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen;
BGH 3. Februar 1987 – VI ZR 32/86 – BGHZ 100, 13, 14 f.; MünchKommBGB/Mertens 3.
Aufl. § 823 Rn. 162). Die verletzte Schutznorm muß gerade dazu dienen, vor Schädigungen der eingetretenen
Art zu schützen, der jeweilige Schaden muß also vom Schutzzweck der Norm umfaßt
sein. Entscheidend ist, ob es nach Maßgabe des Regelungszusammenhangs, in den die Norm gestellt
ist, in der Tendenz des Gesetzgebers liegen konnte, an die Verletzung des geschützten Interesses
die deliktische Einstandspflicht des dagegen Verstoßenden zu knüpfen (BGH 29. Juni 1982 –
VI ZR 33/81 – BGHZ 84, 312, 314). In dem Schädigungsvorgang muß sich eine Gefahr verwirklicht
haben, die durch das Gesetz gerade abgewendet werden soll. Das setzt voraus, daß die Schaffung
eines individuellen Schadensersatzanspruchs in den betreffenden Fällen sinnvoll und im Lichte des
haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar erscheint, um die Gefahr auszuschließen, daß die
Entscheidung des Gesetzgebers gegen eine allgemeine Haftung für Vermögensschäden unterlaufen
wird (BGH 8. Juni 1976 – VI ZR 50/75 – BGHZ 66, 388, 390).
b) Gemessen an diesen Grundsätzen stellt § 2 NachwG kein Schutzgesetz iSv. § 823 Abs. 2 BGB dar.
Weder in § 2 NachwG noch in anderen Vorschriften des NachwG sind Sanktionen bei einem Verstoß
gegen das NachwG vorgesehen. Die Nichtbeachtung des § 2 NachwG berührt nicht die Wirksamkeit
des Arbeitsvertrags. Das Gesetz enthält auch keine Regelungen über die Verteilung der
Beweislast bei nicht erbrachtem Nachweis nach § 2 NachwG. Auch aus der Nachweisrichtlinie ergeben
sich hierzu keine weitergehenden Folgen (vgl. EuGH 4. Dezember 1997 – Rs C 253-258/96 –
AP EWG-Richtlinie Nr. 91/533 Nr. 3 [Kampelmann]). Aus dem Fehlen von Sanktionen für den Fall
eines Verstoßes gegen das Nachweisgesetz folgt, daß der Schutz vor Schädigungen infolge eines
unterbliebenen Nachweises nicht das vom Gesetzgeber mit der Norm verfolgte Anliegen ist. § 2
NachwG gehört damit nicht zu den Schutzgesetzen iSd. § 823 Abs. 2 BGB.
Nach alledem ist die Revision der Klägerin begründet und die Sache zur neuen Verhandlung und
Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
LSG Nordrhein-Westfalen 13.1.2016 – L 8 R 278/14
BAG 25.3.2015 – 5 AZR 368/13
LSG Nordrhein-Westfalen 13.11.2014 – L 7 AS 2311/13
BAG 19.10.2011 – 5 AZR 359/10
LAG Schleswig-Holstein 27.5.2008 – 2 Ta 87/08
LAG Niedersachsen 21.2.2008 – 7 Sa 659/07
LAG Hamm 18.10.2007 – 8 Sa 942/07
LAG Hamm 2.8.2007 – 15 Sa 278/07
LAG Rheinland-Pfalz 29.3.2007 – 9 Sa 811/06
LAG Nürnberg 21.2.2007 – 6 Sa 576/04
BAG 21.2.2007 – 4 AZR 258/06
LAG Schleswig-Holstein 27.12.2006 – 1 Ta 184/06
BAG 14.12.2006 – 8 AZR 628/05
LAG Hamm 15.8.2006 – 12 Sa 450/06
BAG 4.10.2005 – 9 AZR 598/04
BAG 29.9.2005 – 8 AZR 49/05
LAG Hamm 30.8.2005 – 6 Sa 1001/05
LAG Saarland 24.8.2005 – 2 Sa 6/05
BAG 8.6.2005 – 4 AZR 396/04
LAG München 10.3.2005 – 3 Sa 727/04
LAG Hamm 4.1.2005 – 19 Sa 1790/04
LAG Köln 9.6.2004 – 3 Ta 185/04
LAG Hamm 20.2.2004 – 19 Sa 1014/03
BAG 10.2.2004 – 9 AZR 401/02
LAG Hamm 21.1.2004 – 18 Sa 1547/03
LAG Nürnberg 12.1.2004 – 9 (6) Sa 651/02
LAG Hamm 16.9.2003 – 19 Sa 993/03
LAG Berlin 26.11.2002 – 3 Sa 1530/02
BAG 24.10.2002 – 6 AZR 743/00
Fundstelle(n):
BB 2002 S. 2022 Nr. 39
DB 2003 S. 560 Nr. 10