Mehrurlaubskürzung wegen krankheitsbedingter Fehltage, Bundesarbeitsgericht Urteil vom 15.10.2013, 9 AZR 374/12

Tatbestand
1 Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte im Jahr 2011 arbeitsvertraglichen Mehrurlaub wegen
krankheitsbedingter Fehltage des Klägers kürzen durfte.
2 Der Kläger ist bei der Beklagten seit dem 1. Mai 2007 – zunächst aufgrund des Arbeitsvertrags vom
19. März 2007 – als Polsterer beschäftigt. Nach § 5 des weiteren Arbeitsvertrags vom 29. April 2008
erhält der Kläger „einen kalenderjährlichen Erholungsurlaub von 20 Arbeitstagen (= 4 Wochen)“ sowie
unter den „in der Rahmenvereinbarung zum Beschäftigungsverhältnis festgelegten Voraussetzungen
einen zusätzlichen freiwilligen Urlaub von 7 Arbeitstagen (1,4 Wochen)“.
3 Die von den Parteien ebenfalls bereits am 19. März 2007 unterzeichnete „Rahmenvereinbarung zum
Beschäftigungsverhältnis“ (Rahmenvereinbarung) enthält ua. die folgenden Regelungen:
„VIII. Urlaub
1. Der Mitarbeiter erhält unter Zugrundelegung einer Fünf-Tage-Woche (in Anlehnung an
das BUrlG) einen kalenderjährlichen Erholungsurlaub von 20 Arbeitstagen (=
4 Wochen).
2. Zusätzlich wird ein freiwilliger betrieblicher Urlaub von 7 Arbeitstagen (= 1,4 Wochen)
gewährt.

4. Der Anspruch auf den über den gesetzlichen Urlaubsanspruch hinausgehenden
zusätzlichen Urlaub entfällt
a) Für krankheitsbedingte Fehltage gilt folgende Staffel
Vom 4. – 7. Krankheitstag 1 Urlaubstag
Vom 8. – 11. Krankheitstag 2 Urlaubstage

Vom 24. – 27. Krankheitstag 6 Urlaubstage
Vom 28. – 31. Krankheitstag 7 Urlaubstage

5. Die für den vorzeitig und zu viel gewährten Urlaub gewährte Urlaubsvergütung gilt als
Entgeltvorschuss. Diesen kann die Firma zurückfordern und mit Zahlungsforderungen
verrechnen.

X. Zusätzliches Urlaubsgeld
1. Das zusätzliche Urlaubsgeld beträgt für jeden Tag Erholungsurlaub EUR 20,45. Es ist
eine freiwillige Zahlung; auch eine wiederholte Gewährung begründet keinen
Rechtsanspruch.

XI. Sonderzahlungen
1. Die Gewährung einer Sonderzahlung wird vom Betriebsergebnis abhängig gemacht
und jährlich neu geprüft. Sie ist eine einmalige freiwillige Zahlung; auch eine
wiederholte Gewährung begründet keinen Rechtsanspruch.

3. Für den Fall der Erkrankung wird pro Tag ein Dreißigstel der Sonderzahlung
abgezogen. Sofern die Sonderzahlung durch die Kürzung voll aufgezehrt wird, entfällt
der Anspruch.
…“
4 Der Kläger war ua. in der Zeit vom 1. bis zum 11. Februar 2011, am 20. Mai 2011 und vom 14. bis
zum 24. Juni 2011 arbeitsunfähig erkrankt. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts fehlte
der Kläger im Jahr 2011 krankheitsbedingt an insgesamt 27 Arbeitstagen. Die Beklagte kürzte
deshalb den Mehrurlaub des Klägers für das Jahr 2011 um insgesamt sechs Tage und zahlte ihm
auch ein um 122,70 Euro brutto (= 6 Tage x 20,45 Euro/Tag) geringeres Urlaubsgeld.
5 Mit seiner Klage hat der Kläger verlangt, seinem Urlaubskonto vier Urlaubstage gutzuschreiben. Die
weiteren zwei Urlaubstage für das Jahr 2011, um die die Beklagte den Mehrurlaubsanspruch gekürzt
hat, sind Gegenstand eines anderen Rechtsstreits.
6 Das Kläger ist der Ansicht, dass die Regelungen der Rahmenvereinbarung gegen § 305 ff. BGB
verstoßen. Sie seien als Allgemeine Geschäftsbedingungen intransparent. Zudem läge eine
unangemessene Benachteiligung vor, weil nicht nach den Ursachen der Arbeitsunfähigkeit (zB
aufgrund eines Arbeitsunfalls) differenziert würde.
7 Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, seinem Urlaubskonto vier Tage Urlaub gutzuschreiben.
8 Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hält die Regelung in Abschn. VIII Ziff. 4 der
Rahmenvereinbarung für wirksam.
9 Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat auf die Berufung des
Klägers das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und der Klage stattgegeben. Mit ihrer Revision
verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
10 A. Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Beklagte
im Ergebnis zu Recht verurteilt, dem Urlaubskonto des Klägers vier Urlaubstage aus dem Jahr 2011
gutzuschreiben und damit nachträglich zu gewähren.
11 I. Die Klage ist zulässig. Der Kläger verlangt in Form der Leistungsklage, dass die Beklagte seinem
Urlaubskonto vier Urlaubstage gutschreibt. Der Arbeitnehmer hat Anspruch darauf, dass sein
Urlaubs- und Arbeitszeitkonto richtig geführt wird. Das Klageziel richtet sich darauf, dem
Urlaubskonto vier Tage gutzuschreiben und damit diese Urlaubstage nachzugewähren (BAG 17. Mai
2011 – 9 AZR 197/10 – Rn. 9, BAGE 138, 58).

12 II. Die Klage ist auch begründet. Der Anspruch folgt aus § 275 Abs. 1 und 4, § 280 Abs. 1 und 3,
§ 283 Satz 1, § 286 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Nr. 3, § 287 Satz 2, § 249 Abs. 1 BGB. Die Beklagte
war nicht berechtigt, den Urlaubsanspruch des Klägers wegen der Regelung in § 5 des
Arbeitsvertrags iVm. Abschn. VIII Ziff. 4 Buchst. a der Rahmenvereinbarung zu kürzen. Die
Kürzungsregelung hält einer Kontrolle nach dem Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen
gemäß § 305 ff. BGB nicht stand. Sie ist wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot des § 307
Abs. 1 Satz 2 iVm. Satz 1 BGB unwirksam.
13 1. Die Kürzungsregelung ist eine Allgemeine Geschäftsbedingung iSv. § 305 Abs. 1 Satz 1 iVm.
Satz 2 BGB. Sowohl die Rahmenvereinbarung, die gemäß § 5 des Arbeitsvertrags vom 29. April
2008 bei der näheren Ausgestaltung des Anspruchs des Klägers auf Mehrurlaub zu berücksichtigen
ist, als auch die Bezugnahmeklausel in § 5 des Arbeitsvertrags sind von der Beklagten vorformulierte
Vertragsbedingungen, die sie nach dem äußeren Erscheinungsbild mehrfach verwendet hat und die
sie als Verwenderin dem Kläger bei Vertragsschluss stellte. Der Text der Rahmenvereinbarung, die
insgesamt acht Seiten umfasst, sowie der Arbeitsvertrag enthalten über die persönlichen Daten des
Klägers zu Beginn des jeweiligen Textes hinaus keine individuellen Besonderheiten. Individuelle
Vereinbarungen iSv. § 305 Abs. 1 Satz 3 BGB, insbesondere im Hinblick auf die Kürzungsregelung
in Abschn. VIII Ziff. 4 Buchst. a der Rahmenvereinbarung, sind vom Landesarbeitsgericht nicht
festgestellt worden.
14 2. Die Kürzungsregelung in § 5 des Arbeitsvertrags iVm. Abschn. VIII Ziff. 4 Buchst. a der
Rahmenvereinbarung verstößt gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 iVm. Satz 1
BGB und ist deshalb unwirksam.
15 a) Nach § 307 Abs. 1 Satz 2 iVm. Satz 1 BGB sind Verwender von Allgemeinen
Geschäftsbedingungen entsprechend den Grundsätzen von Treu und Glauben verpflichtet, Rechte
und Pflichten ihrer Vertragspartner möglichst klar und durchschaubar darzustellen. Dazu gehört
auch, dass Allgemeine Geschäftsbedingungen wirtschaftliche Nachteile und Belastungen soweit
erkennen lassen, wie dies nach den Umständen gefordert werden kann (BAG 3. April 2007 – 9 AZR
867/06 – Rn. 29, BAGE 122, 64). Sinn des Transparenzgebots ist es, der Gefahr vorzubeugen, dass
der Arbeitnehmer von der Durchsetzung bestehender Rechte abgehalten wird. In der Gefahr, dass
er wegen unklar abgefasster Allgemeiner Geschäftsbedingungen seine Rechte nicht wahrnimmt,
liegt eine unangemessene Benachteiligung iSv. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB (BAG 24. März 2009
– 9 AZR 983/07 – Rn. 96 mwN, BAGE 130, 119).
16 b) Hieran gemessen ist die Kürzungsregelung intransparent. Sie zeigt dem Arbeitnehmer nicht
hinreichend klar auf, in welchem Umfang sein vertraglicher Mehrurlaubsanspruch bei
Arbeitsunfähigkeit gekürzt wird. Hierdurch kann er gehindert werden, seinen (ungekürzten)
Mehrurlaubsanspruch geltend zu machen.
17 aa) Die Beklagte verwendet in Abschn. VIII Ziff. 4 Buchst. a der Rahmenvereinbarung die Begriffe
krankheitsbedingte Fehltage“ und „Krankheitstage“, ohne dass deutlich wird, ob beide Begriffe
identisch angewandt werden sollen. Es ist damit nicht erkennbar, ob jeder „Krankheitstag“ zur
Kürzung führen kann oder nur die „Krankheitstage“, an denen der Arbeitnehmer an sich seine
Arbeitsleistung schuldet. Ausgehend davon, dass in ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
iSv. § 5 Abs. 1 EFZG die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers
anzugeben ist, schließt der Begriff „Krankheitstage“ sämtliche Tage ein, an denen der betroffene
Arbeitnehmer erkrankt ist. Begrifflich können somit auch Samstage, Sonntage, gesetzliche Feiertage
und „Krankheitstage“ während eines gewährten Urlaubs erfasst sein. Soweit die Beklagte mit dem
Begriff „Krankheitstage“ beispielsweise Arbeitstage gemeint haben sollte, an denen eine durch eine
ärztliche Bescheinigung nachgewiesene Arbeitsunfähigkeit bestand und grundsätzlich eine
Arbeitsleistung geschuldet war, kommt dies nicht einmal ansatzweise im Wortlaut der Klausel zum
Ausdruck.
18 bb) Schließlich ist auch die Kürzungsstaffelung als solche intransparent. So ist unklar, ob für die
Berechnung des Kürzungsumfangs sämtliche Zeiten einer Arbeitsunfähigkeit summiert werden
(jährliche Gesamterkrankungsdauer) oder ob es ausschließlich auf die Dauer jeder einzelnen
Erkrankung ankommt (Teilerkrankungsdauer). Im letztgenannten Fall würde eine Kürzung des
Mehrurlaubs unterbleiben, wenn die einzelne Erkrankung eines Arbeitnehmers maximal drei
Arbeitstage andauert, da die erste Kürzungsstaffel erst bei vier „Krankheitstagen“ beginnt. Somit
wäre es möglich, dass ein Arbeitnehmer, der zB drei Mal jeweils drei Arbeitstage arbeitsunfähig
erkrankt ist, keine Kürzung seines Mehrurlaubs hinnehmen müsste, während ein anderer
Arbeitnehmer, der neun Arbeitstage (Gesamterkrankungsdauer) erkrankt war, eine Kürzung seines
Mehrurlaubsanspruchs um zwei Tage hinnehmen müsste. Da zudem angesichts von Abschn. VIII
Ziff. 5 der Rahmenvereinbarung etwaig zu viel gezahltes Urlaubsentgelt als Entgeltvorschuss
behandelt wird, zeigt die Beklagte als Verwenderin der streitgegenständlichen Klausel den
Arbeitnehmern im Ergebnis nicht hinreichend auf, in welchem Umfang ggf. der Mehrurlaub gekürzt
wird und eine etwaige Überzahlung des Urlaubsentgelts nachträglich auszugleichen ist.
19 c) Da die Kürzung des Mehrurlaubs bereits wegen der Unwirksamkeit der Kürzungsregelung gemäß
§ 307 Abs. 1 Satz 2 iVm. Satz 1 BGB unberechtigt erfolgte, kommt es auf die vom
Landesarbeitsgericht aufgeworfene Frage, ob und inwieweit eine Kürzung von arbeitsvertraglichen
Mehrurlaubsansprüchen aufgrund von Arbeitsunfähigkeit am Maßstab des § 4a EFZG zu messen
ist, nicht mehr an.
20 3. Die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs aus Verzug liegen vor.
Der Urlaubsanspruch wandelt sich in einen Schadensersatzanspruch um, der auf Gewährung von
Ersatzurlaub als Naturalrestitution gerichtet ist, wenn der Arbeitgeber den rechtzeitig verlangten
Urlaub nicht gewährt und der Urlaub aufgrund seiner Befristung verfällt (BAG 11. April 2006 – 9 AZR
523/05 – Rn. 24).
21 a) Dieser Urlaubsanspruch für 2011 war nach § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG spätestens mit Ablauf des
Übertragungszeitraums am 31. März 2012 verfallen.
22 b) Zwar ist nicht festgestellt, dass der Kläger gegenüber der Beklagten die Gewährung dieser vier
Urlaubstage vor Verfall verlangte. Der Verzug ergibt sich hier schon daraus, dass die Beklagte mit
der Kürzung im Urlaubsjahr 2011 zu erkennen gab, die gekürzten Urlaubstage nicht gewähren zu
wollen. Darin lag ihre ernsthafte und endgültige Erfüllungsverweigerung als Schuldnerin des
Urlaubsanspruchs, die gemäß § 286 Abs. 2 Nr. 3 BGB eine Mahnung des Klägers entbehrlich macht
(BAG 17. Mai 2011 – 9 AZR 197/10 – Rn. 14, BAGE 138, 58). Vor diesem Hintergrund ist es
unerheblich, ob der Arbeitgeber aus dem Unionsrecht verpflichtet ist, auch ohne Aufforderung des
Arbeitnehmers von sich aus den vollen Urlaubsanspruch im Urlaubsjahr zu erfüllen (vgl. LAG Hamm
14. Februar 2013 – 16 Sa 1511/12 – zu C II 4 der Gründe, anhängig beim EuGH unter – C-118/13 –
[Bollacke]).
23 B. Die Beklagte hat die Kosten ihrer erfolglosen Revision gemäß § 97 Abs. 1 ZPO zu tragen.