Außerordentliche Verdachtskündigung eines Mitarbeiters
BAG Urteil 2 AZR 102/12
In Sachen
Kläger, Berufungsbeklagter und Revisionskläger,
pp.
Beklagte, Berufungsklägerin und Revisionsbeklagte,
hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Ver-handlung vom 23. Mai 2013 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesar-beitsgericht Kreft, die Richterinnen am Bundesarbeitsgericht Berger und Dr. Rinck sowie die ehrenamtlichen Richter Beckerle und Falke für Recht er-kannt:
– 2 –
– 3 –
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesar-beitsgerichts Schleswig-Holstein vom 31. August 2011 – 3 Sa 29/11 – wird auf seine Kosten zurückgewie-sen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Verdachtskündigung.
Die Beklagte betreibt Tankstellen. Der Kläger war bei ihr seit Juli 2003 als Bezirksleiter für den Vertrieb im Außendienst beschäftigt.
Im August 2010 entstand bei der Beklagten der Verdacht, der Kläger könne an betrügerischen Auftragsvergaben zu ihren Lasten beteiligt gewesen sein. Am 20. August und 30. September 2010 hörte sie den Kläger zu den aus ihrer Sicht verdachtsbegründenden Umständen an. Er bestritt die Vorwürfe.
Mit Schreiben vom 5. Oktober 2010 sprach die Beklagte eine fristlose, hilfsweise ordentliche Verdachtskündigung aus. Gegen sie erhob der Kläger fristgerecht die vorliegende Klage. Am 14. Januar 2011 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis erneut fristlos. Auch dagegen erhob der Kläger – in einem eigenständigen Verfahren – Klage.
Am 28. Juli 2011 stellte ein Mitarbeiter der Beklagten weitere Unregel-mäßigkeiten fest. Im November 2009 hatte eine Baugesellschaft der Beklagten für ein Bauvorhaben an einer Tankstelle 8.929,52 Euro in Rechnung gestellt. Darin waren ua. die Lieferung und das Verlegen von Terrassenplatten (terracot-ta, 40 x 40 für 80,64 m²) mit 2.056,32 Euro ausgewiesen. Aus den beigefügten Bautagesberichten, Gesprächsnotizen, Lieferangeboten, Aufträgen, Aufmaß-skizzen und Lieferscheinen für das Bauvorhaben war ersichtlich, dass entspre-chende Leistungen nicht auf einem Tankstellengelände der Beklagten, sondern
1
2
3
4
5
– 3 – 2 AZR 102/12
– 4 –
auf dem Wohngrundstück des Klägers ausgeführt worden waren. Mit Schriftsatz vom 22. August 2011 hat die Beklagte diese tatsächlichen Erkenntnisse ohne erneute Anhörung des Klägers in den vorliegenden Rechtsstreit eingeführt.
Der Kläger hat bestritten, dass er auf Kosten der Beklagten Terrassen-platten in seiner Grundstücksauffahrt habe verlegen lassen. Die abgerechneten Leistungen der Baugesellschaft ständen in keiner Verbindung zu seiner Wohn-anschrift. Dies ergebe sich aus den Mengenangaben und dem Gesamtarbeits-aufwand. Im Übrigen hat der Kläger gemeint, weil sie ihn dazu zuvor nicht an-gehört habe, vermöge die Beklagte die Kündigung auf diesen Vorwurf ohnehin nicht zu stützen.
Der Kläger hat im vorliegenden Verfahren beantragt
festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 5. Oktober 2010 nicht beendet worden ist, sondern zu un-veränderten Bedingungen fortbesteht.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgebracht, der Kläger habe sich betrügerisch zu ihren Lasten bereichert. Er habe auf sei-nem Privatgrundstück Baumaßnahmen ausführen lassen, die als Umbau einer Tankstelle deklariert worden seien. Den auf diesen tatsächlichen Umständen beruhenden Kündigungsgrund habe sie nachträglich in den Rechtsstreit einfüh-ren können, ohne dass sie den Kläger zuvor habe anhören müssen.
Das Arbeitsgericht hat der vorliegenden Klage mit Urteil vom 13. Januar 2011, der Klage gegen die Kündigung vom 14. Januar 2011 mit Urteil vom 17. März 2011 stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat über die Berufungen der Beklagten in getrennten Verfahren am selben Tag verhandelt. Nach Ver-handlung und Durchführung einer Beweisaufnahme im vorliegenden Verfahren hat es beschlossen, eine Entscheidung am Ende der Sitzung zu verkünden. In der sich anschließenden Verhandlung im Verfahren über die Kündigung vom 14. Januar 2011 hat es darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser um eine unzulässige Wiederholungskündigung handeln dürfte. Die Beklagte hat darauf-hin die Berufung gegen das Urteil des Arbeitsgerichts vom 17. März 2011 zu-rückgenommen. Der Kläger hat der Rücknahme ausdrücklich zugestimmt.
6
7
8
9
– 4 – 2 AZR 102/12
– 5 –
Im vorliegenden Rechtsstreit hat das Landesarbeitsgericht das erstin-stanzliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision be-gehrt der Kläger die Wiederherstellung der arbeitsgerichtlichen Entscheidung. Er bringt vor, der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch die Kündigung vom 5. Oktober 2010 stehe schon die durch die Berufungsrücknahme eingetre-tene Rechtskraft der Entscheidung vom 17. März 2011 entgegen. Diese enthal-te mittelbar die Feststellung, dass bei Zugang der Kündigung vom 14. Januar 2011 ein Arbeitsverhältnis mit der Beklagten noch bestanden habe.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Die Kündigung der Beklagten vom 5. Oktober 2010 hat das Arbeitsverhältnis der Parteien beendet. Das Landesar-beitsgericht war trotz der Rechtskraft des arbeitsgerichtlichen Urteils vom 17. März 2011 nicht gehindert, die Wirksamkeit der Kündigung vom 5. Oktober 2010 zu überprüfen (I.). Seine Annahme, die nachgeschobenen Kündigungs-gründe trügen diese Kündigung, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden (II.).
I. Die Rechtskraft der Entscheidung des Arbeitsgerichts vom 17. März 2011, derzufolge die Kündigung vom 14. Januar 2011 das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht beendet hat, steht der Annahme nicht entgegen, das Arbeitsver-hältnis sei schon durch die Kündigung vom 5. Oktober 2010 beendet worden.
1. Der Umfang der Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung im Kün-digungsschutzprozess bestimmt sich nach dem Streitgegenstand. Streitgegen-stand einer Kündigungsschutzklage mit einem Antrag nach § 4 Satz 1 KSchG ist, ob das Arbeitsverhältnis der Parteien aus Anlass einer bestimmten Kündi-gung zu dem in ihr vorgesehenen Termin aufgelöst worden ist. Die begehrte Feststellung erfordert nach dem Wortlaut der gesetzlichen Bestimmung eine Entscheidung über das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses zum Zeitpunkt der Kündigung. Mit der Rechtskraft des der Klage stattgebenden Urteils steht des-
10
11
12
13
– 5 – 2 AZR 102/12
– 6 –
halb regelmäßig zugleich fest, dass jedenfalls im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung zwischen den streitenden Parteien ein Arbeitsverhältnis bestanden hat, das nicht schon zuvor durch andere Ereignisse aufgelöst worden ist (BAG 22. November 2012 – 2 AZR 732/11 – Rn. 19; 5. Oktober 1995 – 2 AZR 909/94 – zu II 1 der Gründe, BAGE 81, 111). Die Rechtskraft schließt gemäß § 322 ZPO im Verhältnis der Parteien zueinander eine hiervon abweichende gerichtliche Feststellung in einem späteren Verfahren aus (BAG 22. November 2012 – 2 AZR 732/11- Rn. 19; 27. Januar 2011 – 2 AZR 826/09 – Rn. 13).
2. Zu berücksichtigen ist aber, dass der Gegenstand der Kündigungs-schutzklage und damit der Umfang der Rechtskraft eines ihr stattgebenden Ur-teils auf die Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch die konkret angegriffene Kündigung beschränkt, dh. das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses im Zeit-punkt des Wirksamwerdens oder Zugangs der Kündigung einer Entscheidung entzogen werden kann (BAG 22. November 2012 – 2 AZR 732/11 – Rn. 20; 26. März 2009 – 2 AZR 633/07 – Rn. 16, BAGE 130, 166). Eine solche Ein-schränkung des Streitgegenstands und Umfangs der Rechtskraft bedarf deutli-cher Anhaltspunkte, die sich aus dem Antrag und der Entscheidung selbst er-geben müssen. Dabei ist nicht ausgeschlossen, für die Bestimmung des Streit-gegenstands und des Umfangs der Rechtskraft Umstände heranzuziehen, die schon mit der Entscheidungsfindung zusammenhängen. So kann für die „Aus-klammerung“ der Rechtsfolgen einer eigenständigen, zeitlich früher wirkenden Kündigung aus dem Gegenstand der Klage gegen eine später wirkende Kündi-gung der Umstand sprechen, dass dieselbe Kammer des (Lan-des-)Arbeitsgerichts am selben Tag über beide Kündigungen entscheidet. In einem solchen Fall wollen regelmäßig weder der Kläger noch das Gericht das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses bei Zugang der späteren Kündigung zum Gegenstand des über deren Wirksamkeit geführten Rechtsstreits machen (vgl. BAG 20. Mai 1999 – 2 AZR 278/98 – zu I der Gründe).
3. Im Streitfall kann dahinstehen, wie weit die Rechtskraft des arbeitsge-richtlichen Urteils vom 17. März 2011 reicht. Die Parteien haben mit der Zu-rücknahme der Berufung durch die Beklagte und der Annahme dieser Erklärung
14
15
– 6 – 2 AZR 102/12
– 7 –
durch den Kläger nicht nur ihren Rechtsstreit mit der Folge beendet, dass die Unwirksamkeit der Kündigung vom 14. Januar 2011 feststeht. Ihre Prozesser-klärungen haben vielmehr zugleich einen materiellrechtlichen Inhalt. Der Kläger soll aus der rechtskräftig gewordenen Entscheidung über die Kündigung vom 14. Januar 2011 keine Rechte herleiten können, die einer inhaltlich eigenstän-digen Entscheidung des Landesarbeitsgerichts über die Kündigung vom 5. Oktober 2010 entgegenstünden. Das ergibt die Auslegung der beiderseitigen Erklärungen (§§ 133, 157 BGB).
a) Die Wirkungen der materiellen Rechtskraft unterliegen zwar nicht der Disposition der Parteien (vgl. BGH 28. Januar 1987 – IVb ZR 12/86 – zu 2 a der Gründe; Rosenberg/Schwab/Gottwald Zivilprozessrecht 17. Aufl. § 152 Rn. 17; Stein/Jonas/Leipold ZPO 22. Aufl. § 322 Rn. 212; MünchKommZPO/Gottwald 3. Aufl. § 322 Rn. 58). Die Parteien können diese Wirkungen aber durch Ver-einbarungen beeinflussen. Bei solchen Abreden handelt es sich nicht um unzu-lässige „Eingriffe“ in die Rechtskraft, sondern um zulässige, ggf. nachträgliche Regelungen ihrer materiellen Folgen, die der Verfügung der Parteien unterlie-gen (vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald aaO Rn. 18; Zöller/Vollkommer ZPO 29. Aufl. § 325 Rn. 43a).
b) Die Beklagte hat mit ihrer Berufungsrücknahme zum Ausdruck ge-bracht, sie sei bereit, die Unwirksamkeit der zweiten Kündigung hinzunehmen. Sie hat damit aus Sicht eines objektiven Empfängers – für den Kläger ohne Wei-teres erkennbar – nicht zugleich erklärt, sie wolle auch den ungekündigten Be-stand des Arbeitsverhältnisses bis zum Zugang der Kündigung vom 14. Januar 2011 anerkennen. Damit hätte sie dem nach wie vor anhängigen Rechtsstreit über die Kündigung vom 5. Oktober 2010 die Grundlage entzogen. Dies war ersichtlich nicht gewollt. Beide Parteien erwarteten insoweit vielmehr eine Sa-chentscheidung des Landesarbeitsgerichts. In den Prozesserklärungen der Par-teien liegt danach die materiellrechtliche Abrede, den Fortbestand ihres Ar-beitsverhältnisses allein von der Entscheidung über die Wirksamkeit der Kündi-gung vom 5. Oktober 2010 abhängig machen zu wollen. Der Kläger kann sich
16
17
– 7 – 2 AZR 102/12
– 8 –
bereits aus diesem Grund nicht darauf berufen, es stehe rechtskräftig fest, dass das Arbeitsverhältnis noch im Januar 2011 bestanden habe.
II. Das Landesarbeitsgericht hat die außerordentliche Kündigung vom 5. Oktober 2010 zu Recht als wirksam angesehen.
1. Nach § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund außerordentlich gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann.
a) Auch der Verdacht einer schwerwiegenden Pflichtverletzung kann einen wichtigen Grund bilden. Ein solcher Verdacht stellt gegenüber dem Vorwurf, der Arbeitnehmer habe die Tat begangen, einen eigenständigen Kündigungsgrund dar. Eine Verdachtskündigung kann gerechtfertigt sein, wenn sich starke Ver-dachtsmomente auf objektive Tatsachen gründen, die Verdachtsmomente ge-eignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Ver-trauen zu zerstören, und der Arbeitgeber alle zumutbaren Anstrengungen zur Aufklärung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hat (st. Rspr. BAG 25. Oktober 2012 – 2 AZR 700/11 – Rn. 13; 24. Mai 2012 – 2 AZR 206/11 – Rn. 16).
b) Der Verdacht muss auf konkrete – vom Kündigenden darzulegende und ggf. zu beweisende – Tatsachen gestützt sein. Er muss ferner dringend sein. Es muss eine große Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass er zutrifft. Die Um-stände, die ihn begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, das eine außerordentliche Kündigung nicht zu rechtfertigen vermöchte. Bloße, auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichen dementsprechend zur Rechtfertigung eines dringenden Tatverdachts nicht aus (BAG 25. Oktober 2012 – 2 AZR 700/11 – Rn. 14; 24. Mai 2012 – 2 AZR 206/11 – Rn. 17).
18
19
20
21
– 8 – 2 AZR 102/12
– 9 –
2. Die Würdigung des Landesarbeitsgerichts, der Kläger sei unter Berück-sichtigung des im zweitinstanzlichen Verfahren „nachgeschobenen“ Kündi-gungsgrundes einer schwerwiegenden Pflichtverletzung dringend verdächtig, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
a) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, die erstinstanzlich gegen den Kläger erhobenen Vorwürfe trügen die Kündigung vom 5. Oktober 2010 nicht. Es bestehe aber der – die Kündigung rechtfertigende – dringende Ver-dacht, der Kläger habe auf Kosten der Beklagten Terrassenplatten an seine Privatanschrift liefern und dort verlegen lassen.
b) Das Landesarbeitsgericht durfte die entsprechenden, von der Beklagten in zweiter Instanz in das Verfahren eingeführten Indiztatsachen seiner Würdi-gung zugrunde legen.
aa) In einem Rechtsstreit über die Wirksamkeit einer Verdachtskündigung sind nicht nur die dem Arbeitgeber bei Kündigungsausspruch bekannten tat-sächlichen Umstände von Bedeutung. So sind auch solche später bekannt ge-wordenen Umstände zu berücksichtigen – zumindest wenn sie bei Kündigungs-zugang objektiv bereits vorlagen -, die den ursprünglichen Verdacht abschwä-chen oder verstärken (BAG 24. Mai 2012 – 2 AZR 206/11 – Rn. 41). Daneben können selbst solche Tatsachen in den Prozess eingeführt werden, die den Verdacht eines eigenständigen – neuen – Kündigungsvorwurfs begründen. Vo-raussetzung ist, dass der neue Kündigungsgrund bei Ausspruch der Kündigung objektiv schon gegeben, dem Arbeitgeber nur noch nicht bekannt war (vgl. BAG 6. September 2007 – 2 AZR 264/06 – Rn. 21; 4. Juni 1997 – 2 AZR 362/96 – zu II 3 a der Gründe, BAGE 86, 88).
bb) Danach durfte das Landesarbeitsgericht auf die von der Beklagten nachgetragenen, den Verdacht auf einen eigenständigen Vertragsverstoß be-gründenden Tatsachen abstellen.
22
23
24
25
26
– 9 – 2 AZR 102/12
– 10 –
(1) Die Verlegung der Terrassenplatten auf dem Grundstück des Klägers war der Beklagten im Zeitpunkt der Kündigung bereits in Rechnung gestellt und von ihr beglichen worden. Dies wurde ihr jedoch erst im Juli 2011 bekannt.
(2) Es bedurfte für die Beachtlichkeit des Vorbringens keiner neuerlichen Anhörung des Klägers.
(a) Führt der Arbeitgeber lediglich verdachtserhärtende neue Tatsachen in den Rechtsstreit ein, bedarf es dazu schon deshalb keiner vorherigen Anhörung des Arbeitnehmers, weil dieser zu dem Kündigungsvorwurf als solchem bereits gehört worden ist. Er kann sich gegen den verstärkten Tatverdacht ohne Weite-res im bereits anhängigen Kündigungsschutzprozess verteidigen (vgl. BAG 29. November 2007 – 2 AZR 1067/06 – Rn. 34).
(b) Führt der Arbeitgeber neue Tatsachen in das Verfahren ein, die den Verdacht einer weiteren Pflichtverletzung begründen, bedarf es der – erneuten – Anhörung des Arbeitnehmers ebenfalls nicht (noch offengelas-sen in BAG 13. September 1995 – 2 AZR 587/94 – zu II 5 der Gründe, BAGE 81, 27; wie hier: KR/Fischermeier 10. Aufl. § 626 BGB Rn. 216; aA Höland Anm. AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 25; Moll/Schulte MAH Arbeits-recht 3. Aufl. § 44 Rn. 110; Ittmann ArbR 2011, 6; wohl auch Hoefs Die Ver-dachtskündigung S. 215). Das ergibt sich aus Sinn und Zweck des Anhörungs-erfordernisses.
(aa) Die Notwendigkeit der Anhörung des Arbeitnehmers vor Ausspruch ei-ner Verdachtskündigung ist Ausfluss des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Sie gründet in der Verpflichtung des Arbeitgebers, sich um eine Aufklärung des Sachverhalts zu bemühen. Sie soll den Arbeitgeber vor voreiligen Entscheidun-gen bewahren und der Gefahr begegnen, dass ein Unschuldiger von der Kün-digung betroffen wird (vgl. BAG 24. Mai 2012 – 2 AZR 206/11 – Rn. 32; 23. Juni 2009 – 2 AZR 474/07 – Rn. 51, BAGE 131, 155). Ist aber – wie beim „Nach-schieben“ von Kündigungsgründen – die Kündigung dem Arbeitnehmer bereits zugegangen, kann dessen Stellungnahme sie in keinem Fall mehr verhindern. Die vorherige Anhörung des Arbeitnehmers ist damit auch mit Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht unverzichtbar. Die Rechte des Arbeitneh-
27
28
29
30
31
– 10 – 2 AZR 102/12
– 11 –
mers werden gleichermaßen dadurch gewahrt, dass er sich im anhängigen Kündigungsschutzprozess gegen den neuen Tatverdacht verteidigen kann (KR/Fischermeier 10. Aufl. § 626 BGB Rn. 216).
(bb) Dieses Ergebnis steht nicht im Widerspruch zu dem Erfordernis, den Betriebsrat analog § 102 Abs. 1 BetrVG zu den erweiterten Kündigungsgründen anzuhören (BAG 4. Juni 1997 – 2 AZR 362/96 – zu II 4 der Gründe, BAGE 86, 88; 11. April 1985 – 2 AZR 239/84 – zu B I 2 der Gründe, BAGE 49, 39). Die An-hörung des Betriebsrats dient – anders als die Anhörung des Arbeitneh-mers – nicht (nur) der Aufklärung des Sachverhalts. Sie soll dem Betriebsrat vielmehr Gelegenheit geben, auf den auf einem bestimmten Sachverhalt beru-henden Kündigungsentschluss des Arbeitgebers aktiv einzuwirken (vgl. BAG 11. April 1985 – 2 AZR 239/84 – aaO). Das lässt sich bezogen auf nachgescho-bene Gründe nur erreichen, wenn diese dem – anders als der Arbeitnehmer am Rechtsstreit nicht beteiligten – Betriebsrat vor ihrer Einführung in den laufenden Prozess zur Kenntnis gebracht werden. Zwar kann auch der Betriebsrat die schon erfolgte Kündigung als solche nicht mehr verhindern. Er kann aber nur so seine – den Arbeitnehmer uU entlastende – Sicht der Dinge zu Gehör bringen.
(3) § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB steht der Berücksichtigung nachgeschobener Tatsachen nicht entgegen. Neu bekannt gewordene, bei Kündigungsausspruch objektiv aber bereits gegebene Gründe können noch nach Ablauf der Zweiwo-chenfrist in den Prozess eingeführt werden. Diese Frist gilt nach dem Wortlaut der Bestimmung allein für die Ausübung des Kündigungsrechts. Ist die Kündi-gung als solche rechtzeitig erklärt, schließt § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB ein Nach-schieben nachträglich bekannt gewordener Gründe nicht aus (BAG 4. Juni 1997 – 2 AZR 362/96 – zu II 3 b der Gründe, BAGE 86, 88).
c) Die Würdigung des Kündigungssachverhalts durch das Berufungsge-richt ist, soweit sie auf tatsächlichem Gebiet liegt, vom Revisionsgericht nur da-raufhin zu überprüfen, ob sie in sich widerspruchsfrei ist und nicht gegen Denk-gesetze, Erfahrungssätze oder andere Rechtssätze verstößt (vgl. BAG 24. Mai 2012 – 2 AZR 206/11 – Rn. 29; 27. Januar 2011 – 8 AZR 580/09 – Rn. 30). Einen Rechtsfehler des Landesarbeitsgerichts dieser Art hat der Kläger nicht aufge-
32
33
34
– 11 – 2 AZR 102/12
zeigt. Das Landesarbeitsgericht hat aus dem Umstand, dass hinsichtlich der von der Baugesellschaft gelieferten Materialien der Lieferort, die Flächen, die Art der Pflasterung und Bauskizzen mit der Auffahrt des Klägers übereinstimm-ten, widerspruchsfrei gefolgert, es bestehe der dringende Verdacht, der Kläger habe sich auf Kosten der Beklagten rechtswidrig bereichert. Es hat nachvoll-ziehbar angenommen, jedenfalls ein Teil der den Bautagesberichten zu ent-nehmenden Arbeitsstunden habe sich auf das Bauprojekt auf dem Grundstück des Klägers bezogen. Der Kläger ist den tatsächlichen Grundlagen dieses Ver-dachts nicht substanziiert entgegengetreten. Seinem Vortrag lässt sich auch nicht etwa entnehmen, er habe die auf seinem Grundstück ausgeführten Arbei-ten selbst bezahlt.
d) Die Interessenabwägung des Landesarbeitsgerichts ist frei von Rechts-fehlern. Es hat alle vernünftigerweise in Betracht zu ziehenden Umstände des Einzelfalls berücksichtigt und vertretbar gegeneinander abgewogen.
III. Die Kosten des Revisionsverfahrens hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO der Kläger zu tragen.